Der weinende Engel
Es war einmal eine Frau, die war böse, sehr böse und starb.
Sie hinterließ nicht eine einzige Spur einer guten Tat. Sie wurde von den
Teufeln ergriffen und in den Feuersee geworfen. Aber ihr Schutzengel stand da
und dachte darüber nach: Könnte ich mich nur dessen erinnern, dass sie irgend
etwas Gutes getan hat, so dass ich es Gott sagen könnte.
Es fiel ihm etwas ein, und er sprach zu Gott: «Sie hat in ihrem Gemüsegarten
eine kleine Zwiebelpflanze ausgerissen und sie einer Bettlerin geschenkt.» Und
Gott antwortete ihm: «Nimm diese kleine Zwiebelpflanze und reiche sie ihr zum
See hinab, die mag sie anpacken und sich daran herausziehen. Und wenn du sie
aus dem See herauszuziehen vermagst, so mag sie ins Paradies eingehen. Wenn
aber das Zwiebelkraut abreißt, so soll die Frau bleiben, wo sie sich jetzt
befindet.» - Der Engel lief zu der Frau, reichte ihr die kleine Zwiebelpflanze
hin und sagte: «Da, Frau, fass an und zieh dich daran heraus.» Und er fing an,
sie vorsichtig an sich heranzuziehen. Und beinahe hätte er sie herausgezogen.
Aber als die übrigen Sünder in dem See sahen, dass man jene herauszog, da
hängten sich alle an sie, damit sie zugleich mit ihr herausgezogen würden. Die
Frau aber wurde böse und begann mit den Füssen nach ihnen zu treten. «Ich soll
herausgezogen werden und nicht ihr, es ist mein Zwiebelchen und nicht eures.»
Sowie sie das ausgesprochen hatte, riss das Zwiebelkraut ab. Die Frau fiel in
den See zurück, und da brennt sie bis auf den heutigen Tag. Der Engel aber fing
an zu weinen und ging fort.
(Fjordor Dostojewski)
Solange Menschen am Bösen festhalten, wird Trauer sein bei Gott und seinen
Engeln. Aber Jesus sagt: «Genau so freuen sich auch die Engel Gottes, wenn ein
einziger Sünder zu Gott umkehrt.»
Quelle: Axel Kühner, Überlebensgeschichten für jeden Tag,
Aussaat Verlag
