Heute
Eine russische Legende erzählt von einer alten Frau, die
sich in einer kalten Winternacht gerade anschickt, in ihr Bett am warmen Ofen
zu kriechen, als es heftig an ihre Tür klopft. Sie hört einfach nicht drauf.
Aber das Klopfen wird lauter und dringender. Schließlich öffnet sie die Tür
einen Spalt breit. Draußen stehen Hirten mit roten Gesichtern und Schnee in den
Haaren.
Ihr langen Bärte sind ganz vereist, und aufgeregt erzählen sie der Frau von
einem schönen Kind, das eben in dieser Nacht in einem armen Stall geboren
wurde. «Komm schnell, Babuschka», betteln die Männer, «komm schnell, du kannst
doch mit Kindern umgehen!» Die Babuschka schüttelt den Kopf. Zu warm ist die
Stube. Zu kalt ist die Nacht. Zu wohlig ist das Bett, zu eisig der Wind. «Morgen»,
sagt die Frau, «morgen will ich kommen und nach dem Kind sehen!» Die Hirten
ziehen wieder ab. Doch bald darauf klopfen sie noch mal an die Tür und bitten
die Frau um einen Korb mit etwas Brot und Wasser. Sie wollen es selbst zu den
Leuten im Stall bringen. «Morgen», sagt die Frau, «morgen will ich den Leuten
etwas bringen.» Am nächsten Tag packt die Frau einen Korb mit Esssachen und
kleinen Geschenken. Aber als sie ankommt, ist niemand mehr im Stall. Die Leute
sind fort. Der Stall ist leer!
Jesus spricht: «Ich möchte heute dein Gast sein!»
Gott rufet noch. Ob ich mein Ohr verstopfet,
er stehet noch an meiner Tür und klopfet;
er ist bereit, dass er mich noch empfange;
er wartet noch auf mich. Wer weiß, wie lang?
Gott locket mich; nun länger nicht verweilet!
Gott will mich ganz; nun länger nicht geteilet!
Fleisch, Welt, Vernunft, sag immer, was du willst,
meins Gottes Stimm mir mehr als deine gilt.
(Gerhard Tersteegen)
Quelle: Axel Kühner, Überlebensgeschichten für jeden Tag,
Aussaat Verlag
