Der enttäuschte Rabbi
Ein Rabbi verkündigte jahrelang seiner Gemeinde Gottes Wort.
Er wollte die Sünder mit Gottes Heiligkeit ermahnen und die Zaghaften mit
Gottes Güte stärken. Eines Tages wurde er seiner Berufung überdrüssig und
verließ enttäuscht die Synagoge. Verkleidet machte er sich auf die Wanderschaft
und wollte nicht mehr Prediger sein.
Er gelangte auf seiner Wanderung zu einer alten Frau, die sterbend in ihrer
ärmlichen Hütte lag. «Warum bin ich geboren worden», fragte die alte Frau,
«wenn nichts als Unglück mein Los war, solange ich mich erinnern kann?» «Damit
du es ertragen und daran reifen solltest!» war die Antwort des verkleideten
Rabbis. Das gab der alten Frau Trost und Ruhe zum Sterben. Als er das Bettuch
über ihr Gesicht zog, beschloss er, von nun an stumm zu sein. - Am dritten Tag
seiner Wanderung begegnete er einem jungen, bettelnden Mädchen, das sein totes
Kind auf dem Rücken trug. Der Rabbi half, das Grab zu tragen. Sie hüllten den
mageren Körper in ein Tuch, legten ihn in die Grube, deckten sie zu, brachen
das Brot, und auf jedes Wort des Bettelmädchens antwortete der Rabbi mit
Gesten. «Das arme Kind hat nichts, weder Freude noch Schmerz gehabt. Glaubst
du, es war wert, geboren zu werden?» Der Rabbi nickte, und das Mädchen war getröstet.
Daraufhin beschloss der Rabbi, fortan taub und stumm zu sein. Er verdeckte sich
vor der Welt in einer Höhle. Dort begegnete er niemandem außer einem Frettchen.
Dessen Fuß war verletzt. Daher verband der Rabbi es und heilte es mit Blättern.
Der Rabbi betete, und das Frettchen saß dabei. Die beiden gewöhnten sich
aneinander und freundeten sich an. Eines Nachmittags stürzte sich ein Raubvogel
vom Himmel und trug das Frettchen, das sich vor der Höhe in der Sonne räkelte,
vor den Augen des Rabbi davon. Da dachte der Rabbi, es wäre besser, wenn er
auch noch die Augen verschlösse. Aber so - blind, stumm und taub - konnte er
nichts anderes tun, als auf den Tod zu warten. Und der, das fühlte der Rabbi,
würde es nicht eilig haben, ihn zu holen. So machte er sich auf und kehrte zu
seiner Gemeinde zurück und predigte wieder die Worte Gottes den Menschen. Er
tat, was er immer getan hatte. - Vielleicht möchten wir manchmal auch aus
unserer Berufung fliehen und den Tauben, Blinden und Stummen spielen. Aber das
bringt uns nur noch mehr Unglück. Darum bleiben wir treu in unserer Arbeit und
werden nur stärker in der Demut und Liebe.
«Jeder soll Gott an dem Platz dienen, an dem ihn Gottes Ruf erreichte.»
