Wo Gott wohnt
Zwei Brüder wohnten einst auf dem Berg Morija. Der jüngere
war verheiratet und hatte Kinder. Der ältere unverheiratet und allein. Die
beiden Brüder arbeiteten zusammen. Sie pflügten ihre Felder zusammen und
streuten gemeinsam das Saatgut auf das Land. Zur Zeit der Ernte brachten sie
das Getreide ein und teilten die Garben in zwei gleich große Stöße, für jeden
einen Stoss Garben.
Als es Nacht geworden war, legte sich jeder der beiden
Brüder bei seinen Garben zum Schlafen nieder. Der Ältere aber konnte keine Ruhe
finden und dachte bei sich: «Mein Bruder hat eine Familie, ich dagegen bin
allein und ohne Kinder, und doch habe ich gleich viele Garben genommen wie er.
Das ist nicht recht!»
Er stand auf und nahm von seinen Garben und schichtete sie heimlich und leise
zu den Garben seines Bruders. Dann legte er sich wieder hin und schlief ein.
In der gleichen Nacht, geraume Zeit später, erwachte der Jüngere. Auch er
musste an seinen Bruder denken und sprach in seinem Herzen: «Mein Bruder ist
allein und hat keine Kinder. Wer wird in seinen alten Tagen für ihn sorgen?»
Und er stand auf, nahm von seinen Garben und trug sie heimlich und leise
hinüber zu dem Stoss des Älteren.
Als es Tag wurde, erhoben sich die beiden Brüder. Und jeder war erstaunt, dass
die Garbenstöße die gleichen waren wie am Abend zuvor. Aber keiner sagte
darüber zum anderen ein Wort. In der zweiten Nacht wartete jeder ein Weilchen,
bis er den anderen schlafen wähnte. Dann erhoben sich beide und jeder nahm von
seinen Garben, um sie zum Stoss des anderen zu tragen. Auf halbem Weg trafen
sie aufeinander, und jeder erkannte, wie gut es der andere mit ihm meinte. Da
ließen sie ihre Garben fallen und umarmten einander in herzlicher und
brüderlicher Liebe.
Gott im Himmel aber schaute auf sie herab uns sprach: «Heilig ist mir dieser
Ort. Hier will ich unter den Menschen wohnen!»
(Nach Nicolai Erdelyi)
«Und so lautet mein Gebot: Ihr sollt einander so lieben, wie ich euch geliebt
habe.»