Versteht mich niemand?
Ein Mädchen kommt weinend zu mir und sagt: «Niemand versteht
mich!» Ich sage: «Du hast Eltern, die sich Mühe geben mit dir.» «Ja, aber
richtig verstehen können sie mich nicht!» Ich frage: «Hast du Freundinnen und
Freunde, mit denen du reden und deine Gedanken teilen kannst?» «Ja, die sind
alle nett zu mir, aber mein Innerstes, was mich letztlich bewegt, verstehen sie
auch nicht.»
Dann sage ich zu ihr: «Verstehst du dich denn selbst?» Da hören die Tränen
plötzlich auf, und nachdenklich sagt das Mädchen: «Ich verstehe mich ja selber
nicht ganz!»
Ja, wir können uns selbst und einander nicht ganz verstehen. Das gehört mit zu
uns Menschen jenseits von Eden. Wir sind einander wie ein Versprechen, das
nicht gehalten werden kann. Wir können uns im Letzten nicht verstehen. In den
Höhen des Glücks, in den Tiefen des Leides, in den letzten Fragen nach
Wahrheit, in der Einsamkeit des Todes, in der Verantwortung vor Gott können wir
uns das Leben letztlich nicht teilen. Es bleibt ein Rest Einsamkeit. Das gehört
zu uns Menschen nach Adam und Abel, nach Kain und Babel. Das gehört mit zur
Last des entfremdeten Menschen.
Die Einmaligkeit des Menschen ist immer auch seine Einsamkeit. Aber Gott in
seiner Liebe teilt unser Leben in einem ganz tiefen und restlosen Verstehen.
Sein Mitwissen mit uns wird ein Mitleben, Mitfreuen, Mitleiden, Mitsterben und
Für-uns-Auferstehen. Einer versteht mich!
«Er hatte die Menschen geliebt, die sich in dieser Welt zu ihm bekannten, und
er hörte nicht auf, sie zu lieben.»
Quelle: Axel Kühner, Überlebensgeschichten für jeden Tag, Aussaat Verlag